Warum ist Ihnen die Welt nicht genug, Herr Allen?
Hannover – das ist mehr als Maschsee, Messe und Herrenhausen. Hannover ist speziell. In der Serie „NP-Stadtgespräch“ gehen wir mit Menschen an für sie besondere Orte. Heute: mit Physiker Bruce Allen (58) durchs Albert-Einstein-Institut. Dort forscht der Professor der Physik.
Von Verena Koll (Text), Rainer Dröse (Fotos) und Felix Peschke (Videos).
Wenn
Bruce Allen die mathematischen Formeln an den beiden Tafeln in seinem Büro im
Albert-Einstein-Institut der Max-Planck-Gesellschaft an der Callinstraße 38 in
der Nordstadt anschaut, beginnen seine braunen Augen zu strahlen. Es ist
offensichtlich: Zahlen sind die große Liebe des 58-Jährigen. Der Professor für
Gravitationsphysik gehört zum erweiterten Team an Wissenschaftlern um die
Physiknobelpreisträger von 2017: Kip Thorne, Rainer Weiss und Barry Barish.
Vermutlich ist Bruce Allen also nicht nur einer der klügsten Köpfe Hannovers,
sondern der ganzen Welt. Was er auf keinen Fall selbst so sieht, dafür ist er
viel zu bescheiden.
Was bedeutet Ihnen der Physiknobelpreis vom vergangenen
Jahr?
Er ist an die US-Wissenschaftler Kip Thorne, Rainer Weiss und Barry
Barish verliehen worden. Sie haben 1992 LIGO gegründet, ein Observatorium,
durch das Gravitationswellen gemessen werden können und an das Hunderte
Wissenschaftler weltweit angeschlossen sind, unter anderem Sie mit ihren
Kollegen vom Albert-Einstein-Institut hier in Hannover.
Ich habe mich riesig gefreut für die drei Preisträger. Ich
habe mit jedem von ihnen schon zusammen gearbeitet, am längsten mit Rainer
Weiss. Ihn habe ich zum ersten Mal am 14. September 1976 getroffen. Er war
einer meiner ersten Dozenten am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology.
Wieso wissen Sie denn das Datum noch so genau?
Weil der 14. September ein besonderer Tag in meinem Leben zu
sein scheint. Genau 39 Jahre nachdem ich Rainer Weiss zum ersten Mal getroffen
hatte, haben wir am Albert-Einstein-Institut zum ersten Mal Gravitationswellen
nachgewiesen.
Am 14. September 2015.
Gegen Mittag.
Warum ist das so besonders? Wozu nutzen die
Gravitationswellen?
Vor allem aus zwei Gründen: Zum einen sind die
Gravitationswellen für Wissenschaftler spannend, weil wir davon ausgegangen
sind, dass sie uns helfen, Albert Einsteins Relativitätstheorie zu beweisen
oder sie zu widerlegen. Einstein selbst hat nicht daran geglaubt, dass wir
Gravitationswellen jemals würden messen können. Sie sind aber Bestandteil
seiner Relativitätstheorie.
Sie haben ihn also widerlegt, weil Sie die
Gravitationswellen nachgewiesen haben. Gleichzeitig haben Sie seine Theorie
damit untermauert.
Genau.
Und was ist der zweite Grund, der Ihre Forschung so wichtig macht?
Das ist der nichtwissenschaftliche Aspekt: Durch die
Gravitationswellen hoffen wir, irgendwann den Urknall zu verstehen. So könnten
wir die vielleicht größte Frage der Menschheit lösen: Wo kommen wir her?
Das klingt beeindruckend. Was haben denn aber
Gravitationswellen damit zu tun?
Der amerikanische Astronom Edwin Hubble hat im Jahre 1929
eine Theorie über die sogenannte Expansion des Weltalls veröffentlicht.
Vereinfacht ausgedrückt, hat er nachgewiesen, dass es den Urknall gegeben hat
und dass sich das Universum seither ausdehnt.
Wie das?
Seit dem Urknall vor 13,8 Billionen Jahren entfernt sich die
gesamte Materie immer weiter voneinander weg. Und wenn wir einzelne Teile der
Materie von der Erde aus betrachten, sehen wir: Je weiter die Materie von uns
entfernt ist, desto schneller bewegt sie sich von uns fort.
Wohin denn?
Das ist die zweite große Frage unseres Forschungsfelds, der
Kosmologie: Wo gehen wir hin?
Und?
Dazu gibt es zwei Theorien: Die eine besagt, dass sich das
Universum immer weiter ausdehnen wird und dass den Sternen dann irgendwann der
Treibstoff ausgehen könnte. Alle Sterne würden Schwarze Löcher. Gingen aber
alle Sterne aus, auch die Sonne, dann würde es kalt auf der Erde, Leben könnte
nicht mehr existieren, das wäre das Ende. Die andere Theorie besagt, dass das
Universum sich bis zum Maximum ausbreitet und dann kollabiert, wir würden alle
zerquetscht.
Klingt wie beim Urknall. Könnte der sich wiederholen?
Vielleicht hat er das sogar schon oft. Das wissen wir noch
nicht. Aber das hoffen wir, eines Tages nachzuweisen.
Blöd ist: Beide Theorien sehen das Ende der Welt.
Aber erst in etwa zehn Billionen Jahren, darüber müssen Sie
sich also vorerst keine Sorge machen (er lacht).
Wie spüren Sie die Gravitationswellen denn auf?
Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen mein liebstes Spielzeug.
Aus seinem Büro...
... im Max-Planck-Institut führt Professor Allen
in den sogenannten Cluster-Raum. Er läuft an der Wand vorbei, an der Porträts
der 180 Mitarbeiter des Albert-Einstein-Instituts hängen („die sind allerdings
nicht mehr ganz aktuell, das sehen Sie an meinem Foto“). Weiter geht’s über den
Hof zu einem anderen Gebäude, in dessen Keller stoppt Allen an einer Tür und
warnt vor der sehr hohen Eingangsstufe.
Er öffnet die Tür, ein dumpfes Dröhnen
dringt heraus. Graue Spinde reihen sich aneinander, gelbe, rote, pinkfarbene,
grüne und blaue Kabel sind zu sehen. Es fühlt sich kühl an im Raum. Kein
Wunder: Das Zimmer wird auf konstant 20 Grad gehalten. Denn hier steht ATLAS,
der weltweit leistungsfähigste Supercomputer, der zur Datenanalyse von
Gravitationswellen genutzt wird. Wissenschaftler aus der ganzen Welt greifen
auf die Daten zu.
Das nennen Sie Spielzeug?
Na klar, durch dieses Spielzeug ist unsere Forschung
überhaupt erst möglich geworden. Das war auch einer der Gründe, wegen der ich
nach Hannover gekommen bin.
ATLAS ist 2008 in Betrieb gegangen. Ein Jahr zuvor waren sie
Direktor des Max-Planck-Instituts geworden, außerdem sind Sie Professor am
Institut für Gravitationsphysik an der Leibniz-Universität.
Ich hätte auch in den USA bleiben können. Aber dann hätte
ich unterrichten, veröffentlichen, forschen und
Geld für die Forschung eintreiben müssen. In Hannover ist es wesentlich
angenehmer, als Wissenschaftler zu arbeiten. Ich lebe gern hier. Meine Frau
übrigens auch: Sie ist Italienerin und wollte gern, dass wir mit den Kindern
näher an ihrer Familie wohnen.
Auf dem Weg zurück in sein Büro – im Cluster-Raum ist es für
ein Gespräch einfach zu laut – erzählt er, dass er mit seiner Familie in
Garbsen lebt. So oft er kann, kommt er mit dem Fahrrad zur Arbeit, eine Stunde
lang ist er pro Strecke unterwegs. Er müsse sich fit halten in seinem Alter.
Früher ist er auf Wettkämpfen geschwommen, ein Foto von ihm bei einem
Masters-Wettkampf in Fort Lauderdale im US-Bundesstaat Florida hängt an seiner
Büro-Wand. Schmetterling war seine Disziplin, bloß bereitet ihm eine Schulter
Probleme, darum soll er nicht mehr so viel in seiner Lieblingstechnik
schwimmen.
Warum sind Sie eigentlich Physiker geworden?
Ich habe schon immer die Mathematik gemocht. Mit Englisch
oder Geschichte konnte ich in der Schule nie viel anfangen, da gab es mehrere
Antworten auf eine Frage. Bei Mathe war das anders: Da gab es zwar viele Wege
zu einer Lösung, aber eben immer nur eine richtige Antwort. Das ergibt für mich
Sinn auf eine sehr angenehme Weise. Und ich glaube, es hat auch damit zu tun,
dass ich als Kind sehr krank war.
Was heißt „sehr krank“?
Ich war etwa zehn Jahre alt, als meine Eltern feststellten,
dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich wuchs nicht weiter, ich wurde im
Gegenteil immer weniger. Die Ärzte glaubten zunächst an eine Muskeldystrophie.
Einen Muskelschwund.
Das war es aber nicht. Dann glaubten sie an eine
Stoffwechselerkrankung, ich musste Vitamin D in wirklich großen Mengen nehmen.
Das war es aber auch nicht. Denn schließlich stellten die Ärzte fest: Ich hatte
einen Tumor an meinem rechten Unterarm (er zeigt die Narbe). Ich war erst der
siebte Patient weltweit, bei dem das festgestellt worden war und auch der
jüngste. Ich blieb monatelang im Krankenhaus. Und ich weiß noch, als ich da so
in meinem Bett lag, blickte ich auf das Fenster und fragte mich irgendwann: Wie
funktioniert das? Wie lässt sich das Fenster öffnen und schließen? Warum lässt
es sich bewegen? Ich habe mich damit abgelenkt zu überlegen, wie die Dinge
zusammenhängen. Und das beschäftigt mich bis heute: Ich möchte wissen, wie die
Dinge zusammenhängen. Wo wir herkommen und wo wir hingehen.
Was fast schon religiös klingt.
Ich bin allerdings kein religiöser Mensch. Ich hänge
keiner Glaubensrichtung an. Für mich ist die Wissenschaft so etwas wie eine
moderne Religion. Alles hat eine Bedeutung, die erklärt werden kann. Ich möchte
auch glauben, dass das Universum erklärt werden kann.
Warum muss es das Universum sein? Warum ist Ihnen die Welt nicht genug?
Oh, die Welt ist mir genug. Aber das Universum ist ganz
einfach das größte verbleibende Mysterium. Das macht es besonders reizvoll für
mich.
Ihr Doktorvater Stephen Hawking hat Sie mit auf den Weg in
die Gravitationsphysik und die Kosmologie gebracht. Wie war er als Lehrer?
Mit ihm zu arbeiten, war wunderbar. Ein besonderer Zauber
umgab ihn. Er hat Menschen inspiriert, hat sie Dinge entdecken lassen; er hat
das Beste aus uns allen herausgeholt. Als ich zu ihm kam, das war 1980, war er
schon berühmt. Aber durch seine Behinderung ...
Hawking litt an ALS, der Amyotrophen Lateralsklerose, bei
der die Nervenzellen der Patienten absterben. Er war auf einen Rollstuhl
angewiesen.
Dadurch konnte er nicht um die Welt reisen und
Vorträge halten, er war sehr viel am Institut. Und ihm war wichtig, dass wir
uns alle miteinander täglich um 11 und um 16 Uhr trafen. Dafür gab’s zwischen
unseren Büros einen Aufenthaltsbereich. Mal haben wir über Politik, Sport oder
Filme gesprochen, meist aber über unsere Arbeit. Ich weiß noch, wir hatten
kleine weiße Tische in diesem Aufenthaltsbereich, und auf diese Tische haben
wir mit Bleistiften geschrieben, unsere Gedanken so miteinander geteilt. Durch
diesen Austausch habe ich viel gelernt. Und wir hatten immer viel Spaß
miteinander.
Wie sieht denn Physiker-Spaß aus?
Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass Stephen einmal
einen Computer geschenkt bekommen hat. Den hat er mit ins Institut gebracht und
dann haben wir alle miteinander erst einmal eine Woche lang nur die Spiele
gespielt, die darauf waren: Pac-Man und Pong (er lacht und dabei steigen ihm
Tränen in die Augen, verstohlen wischt er sie aus den Augenwinkeln). Und selbst
bei seiner Beisetzung am 31. März in Cambridge hat er uns noch zum Lachen
gebracht.
Wie denn?
Die Beisetzung war für 14 Uhr geplant. Aber Stephen war nie
pünktlich, er kam immer mindestens 15 Minuten zu spät. Da war es nur
konsequent, dass selbst seine Beisetzung 15 Minuten zu spät begonnen hat.
Was hat er dazu gesagt, dass Sie die Gravitationswellen
entdeckt haben?
Er war sehr aufgeregt deshalb. Ganz zu Anfang hatte er
selbst zum Thema geforscht, darum hat er sich sehr für uns gefreut.