Von Verena Koll (Text), Christian Behrens (Fotos) Wie schmeckt Hannover, Herr Schacht? Hannover – das ist mehr als Maschsee, Messe und Herrenhausen. Hannover ist speziell. In der Serie „NP-Stadtgespräch“ gehen wir mit Menschen dieser Stadt an für sie ganz besondere Orte. Wir wollen Hannover dort sehen, hören und begleiten. Heute: Mit Markthallen-Chef Gerhard Schacht (65) in den „Bauch“ von Hannover.
Videos: Felix Peschke, Medienproduktion Filmklar, Hannover
Es ist zehn Uhr
morgens. Gerhard Schacht steht vor der Markthalle. Der
Geschäftsführer des sogenannten Bauchs von Hannover wippt von einem
auf den anderen Fuß, der Schnauzer ist akkurat getrimmt, sein
Handschlag kräftig. Er bittet zum Simpático fürs Gespräch, ins
Bistro von Nejat Ali, der im Dezember seit 15 Jahren in der
Markthalle sein wird. „Ali, ich brauche einen Kaffee, bitte“,
fordert Schacht. „Kommt!“, verspricht der Gastronom lächelnd –
und steht bald darauf mit dampfenden Espressotassen am Tisch.
Wissen Sie, wenn ich
Interviews gebe, dann treffe ich mich immer hier bei Ali. Das wissen
alle in der Markthalle. Das halte ich so, weil ich nicht möchte,
dass sich ein Händler benachteiligt fühlt.
Och, kommen Sie, Sie
haben doch bestimmt einen Lieblingsplatz in der Halle?
Nein, habe ich
nicht. Wirklich nicht. Und das liegt ganz einfach daran, dass ich die
Halle als Ganzes sehe: Mir ist jeder einzelne Händler wichtig, denn
nur so funktioniert die Halle – als Ganzes.
Sonst gibt es auch
schnell Unruhe, oder? Ich denke da an die Auseinandersetzungen
zwischen den Händlern und der Betreibergesellschaft um die
Jahrtausendwende.
1997 haben wir die
Markthalle von der Stadt übernommen, ja. Und dann haben wir unter
anderem Nebenkostenabrechnungen eingeführt.
Eingeführt?
Ja, die gab es
vorher nicht. Ich kann mich noch genau an die
Gesellschafterversammlung vom 17. Januar 2001 erinnern: Wir hatten
die Nebenkostenabrechnungen für die Händler erstellt und wussten
genau: Wenn wir die rausschicken, wird das Geschrei groß sein. Aber
ich habe gesagt: Wenn die Zahlen stimmen, die wir da ausgerechnet
haben, dann müssen die Rechnungen raus.
Und das Geschrei war
groß. Es hatte den Anschein, als hätten Sie mit den Mietern nur
noch per Anwalt kommuniziert.
Das stimmt. Am
schlimmsten war meine Mutter. „Gerhard“, hat sie gesagt, „warum
bist du so ein schlechter Mensch? Die Leute verhungern, das kannst du
doch nicht machen.“ Verhungert ist keiner. Und wir haben letztlich
alle Prozesse gewonnen. Die Abrechnungen waren rechtens. Das muss man
sich einfach mal klar machen: Wir öffnen täglich um 4.45 Uhr –
dann sind die Hausmeister schon da, die Belieferung der Geschäfte
beginnt. Und wir schließen erst um 22 Uhr abends, dann sind die
Reinigungskräfte fertig, das letzte Klo ist geputzt. Das kostet
natürlich alles, auch wenn das nicht alle wahrhaben wollten. Ich
sage immer: Das ist hier betreutes Wohnen.
Herr Schacht!
Stimmt doch. Die
Händler müssen sich um wenig kümmern, die Kunden kommen, der
Hausmeister ist da. Zur Zeit der Privatisierung wussten das nicht
alle zu schätzen. Da hatte ich einige Hardcore-Händler, da habe ich
Beschimpfungen schon nicht mehr als schlimm empfunden. Ich habe
damals Morddrohungen bekommen, das ging bis hin zu Rasierklingen in
den Autoreifen.
Au wei.
Das kann ich Ihnen
sagen.
War das die größte
Krise der Markthalle?
Nein, die
schwierigsten Zeiten sind immer die, wenn alles läuft. Mit der
Zufriedenheit kommen die Ideen, und dann wird es erst richtig
schwierig.
Die Geschichte
War das die größte
Krise der Markthalle?
Nein, die
schwierigsten Zeiten sind immer die, wenn alles läuft. Mit der
Zufriedenheit kommen die Ideen, und dann wird es erst richtig
schwierig.
Meinen Sie Ideen wie
die aus diesem Sommer? Da schlug ein Investor vor, es wäre schön,
die Markthalle umzubauen und sie architektonisch wieder in Richtung
der ersten Markthalle zu bringen.
Die erste Markthalle
war am 18. Oktober 1892 eröffnet worden nach einem Entwurf des
Architekten Paul Rowald, der sich auch die Pläne für das
Goethegymnasium und die Sophienschule ausgedacht hatte. Rowald hatte
sich für die Markthalle die Galerie des Machines, die Maschinenhalle
der Pariser Weltausstellung von 1889 zum Vorbild genommen. Ein
Jugendstilkonstrukt aus Stahl und Glas. Ein Bombenangriff am 26. Juli
1943 zerstörte die Halle, die aber nach dem Krieg neu aufgebaut und
am 14. Dezember 1955 wieder eröffnet wurde. Architekt diesmal: Erwin
Töllner, der sich unter anderem die Pläne für die Hanomag-Siedlung
und den Großmarkt am Tönniesberg ausdachte. Es ist ein Zweckbau aus
den 1950ern. Im Sommer hieß es, ein Investor wolle die Halle kaufen
und umbauen, um sie in Richtung des ursprünglichen Baus zu bringen.
Hätten Sie das
nicht schön gefunden?
Darum geht es nicht.
Man mag die Halle schön oder hässlich finden, aber sie gehört zu
Hannover. Sie ist ein Teil der Stadt. Hier werden viele Kontakte
geknüpft. Der Landtag ist nahe, viele Geschäfte und Banken liegen
ringsum, hier treffen sich die Entscheider und fixieren Geschäfte,
die dann später im Landtag oder in Aufsichtsräten beschlossen
werden. In der Markthalle können die Leute in einer ungezwungenen
Athmosphäre miteinander reden. Die Sache mit dem Kauf der Halle ist
in meinen Augen etwas anderes: Betrug.
Warum?
Ich glaube, hier
möchte sich ein Investor in Stellung bringen. Im Programm „Hannover
2020“ plant die Stadt die Neubebauung des Köbelinger Marktes
zwischen Markthalle, Schmiede- und Marktstraße. Und da mag mancher
denken, wenn er die Markthalle kauft, bringt er sich für den
Köbelinger Markt in eine günstige Stellung. Das hat viel Unruhe
hier reingebracht, denn man darf nicht vergessen: Es geht um 600
Arbeitsplätze in der Markthalle. Ich hatte auf einmal viele besorgte
Mieter bei mir, die mich gefragt haben: Was ist da los? Was passiert
mit der Halle, mit uns? Müssen wir jetzt raus? Aber ich habe allen
ganz klar gesagt: Wir verkaufen nicht. Wir haben 1997 die Halle von
der Stadt mit Erbpacht übernommen, die über 50 Jahre läuft. Danach
fällt die Halle an die Stadt zurück. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Gibt es denn andere
Pläne?
Pläne haben wir,
klar. Wir wollen nächstes Jahr zum Beispiel mit Werbepartnern einige
Kult-Tage einführen.
Zum Beispiel?
96-Tage haben wir
ohnehin bei jedem Heimspiel. Dann wird es einen Nikolaus-Tag geben,
an dem uns der Nikolaus besucht. Vermutlich feiern wir auch diesen
amerikanischen Blumentag. Wie heißt der noch?
Den Valentinstag?
Genau, am 14.
Februar. Und ein Primeur-Tag wäre schön.
Da kommt um den 15.
November herum Jungwein auf den Markt, dessen Gärung noch nicht
beendet ist. Meist ein Beaujolais Nouveau.
Da gab es früher
schon immer den Wettbewerb: Wer schenkt den ersten aus? Das könnte
ich mir gut bei uns vorstellen.
Könnten Sie sich
auch eine Expansion vorstellen?
Eine weitere Markthalle?
Nein. Wohl beraten
wir als Betreibergesellschaft immer mal wieder andere Projekte – in
Köln, Wolfsburg, München, Hamburg oder Bremen etwa. Aber
expandieren? Nein, das wollen wir nicht.
Inzwischen ist eine
gute Stunde vorüber. Das Mittagsgeschäft macht sich langsam
bemerkbar in der Markthalle. Geschirr klappert. Speisen zischen im
Fett der aufgewärmten Pfannen. Gerhard Schacht bricht auf zu einem
Rundgang vorbei an den 68 Ständen, die täglich etwa 10 000 bis
15 000 Besucher passieren. Am Käse-Stand von Elke Herde trifft
Gerhard Schacht auf Franz Hirnich. Die beiden kennen sich vom
Hannoverschen Sportclub, wo Schacht im Alter von elf Jahren mit dem
Fußball angefangen hat. Im Mittelfeld. Es folgte der Trainerschein.
Aufgehört hat er erst bei den Alten Herren im Postsportverein. „Mit
über 50.“
Jetzt stehen wir
mittendrin im Bauch der Stadt, da drängt sich die Frage auf: Wie
schmeckt denn eigentlich Hannover, Herr Schacht?
Der Geschmack der
Stadt, der Geschmack der Menschen, ja, die Menschen selbst haben sich
sehr geändert. Vor zehn Jahren hätte niemand einen Burgerladen als
gute Küche dargestellt. Das ist einer dieser Trends, denen ich
vielleicht drei Jahre gebe, dann hat sich das wieder tot gelaufen.
Ich wünschte, es würden sich mehr Händler in Hannover auf ihren
eigenen Geschmack besinnen, nicht immer nur den Trends
hinterherlaufen. Nicht alles, was früher geschmeckt hat, war
schlecht.
Was war denn gut?
Ich erinnere mich
zum Beispiel an Gänseklein. Das gehörte in den 1960ern zum Sonntag
dazu: Gänseklein mit Reis. Also Frikassee aus allem, was von der
Ente übrig blieb. Dann erinnere ich mich an die Kruste vom
Gersterbrot: Wenn meine Mutter mich losgeschickt hat, um ein Brot zu
holen, habe ich das ohne Kruste mit nach Hause gebracht. Die habe ich
schon auf dem Weg gegessen. Dann gab es bei uns oft Knödel mit
Sauerbraten, wir sind ja als Flüchtlinge aus Tschechien nach
Hannover gekomm en, das war eins der Gerichte, die wir
mitgebracht haben. Später hat sich unser Geschmack assimiliert: Da
gab es auch Grünkohl mit Bregenwurst. Und bei Ausflügen ans
Steinhuder Meer Aal. Einen Geschmack vermisse ich allerdings gar
nicht!
Nämlich?
Karpfen. Davon
standen in den 1960ern reichlich auf den Speisekarten, ich glaube, da
sind ganze Teiche leergefischt worden. Und bei uns gab es zu
Weihnachten immer Karpfen.
Der sich in der
Badewanne sauber geschwommen hat?
Klar, mit allem drum
und dran. Mein Vater wollte das. Dabei hassen Kinder Karpfen.
Klingt, als ob Sie
auf den Maschsee-Karpfen zu Weihnachten verzichten.
Stimmt. Kein Karpfen
für mich. Dabei fällt mir aber noch etwas ein, wonach Hannover für
mich schmeckt: nach Keks.
Frei nach Matthias
Brodowy: die Stadt mit Keks.
Ja, denn wir wohnten
während meiner Kindheit in der List. Und auf dem Schulweg musste ich
immer vorbei an der Fabrik von Bahlsen an der Podbi. Da konnte man
durchs Fenster sehen, wie die Kekse übers Band liefen. Und ab und zu
kam immer eine Frau vorbei, die einen sehr großen Karton voller
Kekse trug. Und jedes Mal, wenn ich diese Frau gesehen habe, dachte
ich: „Hoffentlich fällt ihr der Karton gleich aus der Hand, dann
bekomme ich die Kekse!“ Aber leider ist das nie passiert. Nie.
Meine Mutter hat mich zu Hause schon immer begrüßt mit: „Wieder
nichts gefallen?“
Dafür verkauft die
Firma heute in der Markthalle.
Das ist ein
Stückchen Kindheit für mich. Meine allererste Erinnerung an die
Markthalle ist allerdings eine ganz andere.
Na?
Da muss ich drei
oder vier Jahre alt gewesen sein, die neue Halle war noch nicht
aufgebaut. An der Straße davor verkauften die Händler ihre Waren,
und darunter war ein Freibankfleischer, da sind mein Vater und ich
immer mit dem Fahrrad hin. Heute würde das vermutlich kein Mensch
mehr kaufen, da gilt das Fleisch als minderwertig. Aber damals war
das der einzige Fleischer, der echte schlesische Würstchen hatte.
Die haben wir bei ihm immer gekauft. Auch danach schmeckt Hannover
für mich.
Schmeckt es
eigentlich auch nach Ruhestand? Sie werden im Dezember 66.
Stimmt. Und ich
wollte auch weniger machen.
„Wollte“ ist die
Vergangenheit, das wollen Sie also nicht mehr?
Stimmt (er lacht).
ich habe ja auch eine Verantwortung den Mitarbeitern gegenüber, ich
habe Auszubildende, deren Lehrzeit ich noch bis zum Ende begleiten
möchte. Und letztlich: Was soll ich denn sonst machen? Soll ich
vielleicht jeden Tag tauchen gehen? Das könnte ich zwar, ich bin
passionierter Taucher. Aber das halten Sie vielleicht ein halbes Jahr
aus, dann fiele ich meiner Frau auf die Nerven. Und das will
schließlich auch keiner.