Wie kostbar ist das Leben, Herr Bliefernicht? Von Verena Koll (Text) und Christian Behrens (Fotos)
Hannover – das ist
mehr als Maschsee, Messe und Herrenhausen. Hannover ist speziell. In
der Serie „NP-Stadtgespräch“ gehen wir mit Menschen dieser Stadt
an für sie ganz besondere Orte. Wir wollen Hannover dort sehen,
hören und begleiten. Heute: Mit Leiter Kurt Bliefernicht (57) in das
Hospiz Luise in Kirchrode
Videos: Felix Peschke, Medienproduktion Filmklar, Hannover
Jemand war fleißig
im Hospiz Luise an der Brakestraße 2 d in Kirchrode, hat die Fenster
geschmückt mit Eiskristallen und Sternen, alle selbst gebastelt aus
Papier. Und das Wohnzimmer: ein adventliches Gesteck aus
Tannenreisern steht auf dem Beistelltischchen, zwei weiße
Rentierfiguren daneben. Und erst die Vanillekipferl: beim Draufbeißen
krachen sie auseinander, schön knusprig und herrlich vanillig dabei,
sie sehen aus wie fabrikgefertigt, so akkurat sind sie geformt. „Aber
selbst gebacken“, betont Hospizleiter Kurt Bliefernicht, „die hat
eine ehrenamtliche Mitarbeiterin für uns gemacht.“
Wie ist das
überhaupt mit Weihnachten? Was passiert da im Hospiz? Feiern Sie
Weihnachten und Silvester?
Na klar. Wir treffen
uns im Wohnzimmer zu einer kleinen Weihnachtsfeier an Heiligabend.
Das ist kein Zwang, aber wer mitmachen möchte, ist herzlich
eingeladen. Wir lesen die Weihnachtsgeschichte, singen miteinander.
Und es gibt ein besonderes Essen.
Die Mahlzeiten
bezieht das Hospiz vom benachbarten Vinzenzkrankenhaus. Weihnachten
gebe es immer etwas Besonderes, erzählt Krankenpfleger Hansjörg
Hartmann. Seit 17 Jahren begleitet er im Hospiz Menschen in deren
letzten Lebenstagen. Heiligabend wird er mit Chef Bliefernicht Dienst
haben, er ist gespannt, was der Tag bringen wird. „Ich hatte mal
eine Patientin“, beschreibt Hartmann, „die war schon so weit auf
ihrem Weg, dass wir sie im Bett zur Weihnachtsfeier schieben mussten,
die Kraft verließ sie“, erinnert er sich. „Dann habe ich
beobachtet, wie sie zu den Weihnachtsliedern noch ihre Lippen
mitbewegte – und zwei Stunden später ist sie gestorben. Das hat
mich sehr bewegt.“
Die Frage ist zwar
banal, aber: Gibt es bei Ihnen auch Geschenke? Oder ist das Leben
Geschenk genug?
Geschenke gibt es
auch bei uns, klar. Zum Beispiel sind Ölbäder für die Patienten
immer sehr willkommen. Wir haben eine große Hubbadewanne mit
Whirlpool, in der sie das genießen können. Oder feine aromatische
Öle, mit denen wir sie einreiben und an denen sie sich freuen
können. Manchen ist es aber auch das größte Geschenk, wenn sie
Weihnachten noch einmal im Kreise ihrer Angehörigen verbringen.
Und Silvester?
Feiern wir natürlich
auch.
Mit Böllern?
Nee (er lacht), das
nun nicht. Wir schauen uns die Böller der Nachbarn an, das reicht.
Aber wir zünden Wunderkerzen an und wer mag darf einen Schluck Sekt
trinken. Auch dabei entstehen sehr oft berührende Momente. Wenn etwa
ein Patient das Gefühl hatte, er überlebt dieses Jahr nicht mehr,
schafft es dann aber doch ins Neue. Manche weinen über diesen
kleinen Erfolg, den sie da geschafft haben.
Wird bei Ihnen mehr
geweint oder gelacht?
Hmm (er hält einen
Augenblick inne), in den Zimmern, die wir für die Zugehörigen zur
Verfügung stellen, wird vielleicht mehr geweint. Aber alle
miteinander lachen wir mehr, als dass wir weinen. Natürlich blenden
wir das Thema Sterben dabei nicht aus, immerhin begleiten wir die
Menschen hier am Ende ihres Lebenswegs.
Wie lang ist der im
Schnitt?
Die meisten
Patienten sind etwa 21 Tage lang bei uns. Das hat sich in den 23
Jahren seit der Gründung nicht geändert.
Sie sprechen immer
wieder von Patienten und Zugehörigen. Warum nicht von Bewohnern und
Angehörigen?
Bewohner, das klingt
nach Senioren- oder Pflegeheim. Wir sind aber kein Pflegeheim,
sondern eine Einrichtung mit hoch palliativen Patienten. Dafür hat
der Gesetzgeber Hospize geschaffen.
Wer zahlt dafür?
Die Kosten für
einen Patienten im Hospiz übernehmen zu 95 Prozent die Krankenkasse
und die Pflegekasse.
Die Patienten müssen
also fünf Prozent selbst tragen?
Nein, bei uns muss
kein Patient selbst etwas zahlen. Den Rest organisieren wir durch
Spenden – für die wir übrigens immer dankbar sind (er lacht).
Wir waren bei den
Namen stehen geblieben: Warum sagen Sie „Zugehörige“?
Das wiederum ist bei
uns anders als im Krankenhaus: Wenn ein Patient zu uns kommt, fragen
wir ihn, welche Menschen ihm am vertrautesten sind, wer über seinen
Zustand Bescheid wissen soll. Das können Angehörige sein, sie
müssen es aber nicht sein. Es können auch einfach gute Freunde oder
Nachbarn sein. Das rührt aus unserer Anfangszeit: Damals hatten etwa
zehn Prozent unserer Patienten AIDS, es waren dann meist
Lebensgefährten, die ihnen am nahesten standen und nicht in erster
Linie Angehörige. Darum sprechen wir von Zugehörigen. Wir sehen das
so: Jeder Mensch ist einzigartig, sein Umfeld auch, und wir
versuchen, uns darauf einzustellen.
Bliefernicht deutet
auf eine Spielecke, gleich rechts vom Kamin stehen Spielsachen für
Kleinkinder – manche Patienten hätten noch kleine Töchter, Söhne
oder Enkel, auch diese sollten sich bei den Besuchen im Hospiz so
wohl wie möglich fühlen können. Oder im Garten toben zwischen den
gepflegten Rabatten, in denen die Bodendeckerrosen immer noch rosa
blühen zwischen Buchbaumkegeln und Lavendel. Bliefernicht führt
vorbei am Wintergarten und der offenen Küche in einen
Besprechungsraum. Kaffee, Tee und Vanillekipferl stehen schon bereit.
Er gießt ein.
Haben Ihre Patienten
eigentlich Angst vor dem Tod?
Natürlich, auch im
Hospiz geht es um die Angst vor dem Tod, obgleich ja jeder weiß,
dass er zum Sterben zu uns kommt. Wenn wir einen Patienten haben, der
länger bei uns bleibt als die durchschnittlichen 21 Tage, dann sieht
er viele Menschen kommen und gehen. Wenn einer davon seine Angst vor
dem Tod anspricht, thematisieren wir das, fragen nach: Welche Angst
spüren Sie? Hat zum Beipsiel ein Lungenkrebspatient Angst vor
qualvollem Ersticken? Hat ein anderer seine familiären Konflikte
noch nicht gelöst? Wir versuchen, der Angst auf den Grund zu gehen
und sie zu nehmen.
Haben Sie ein
Beispiel?
Ich erinnere mich
zum Beispiel an einen Patienten, der jahrelang nicht mit seiner
Mutter gesprochen hatte. Solche Konflikte möchten viele unserer
Patienten am Lebensende noch klären, sonst können sie nicht
loslassen, nicht in Frieden gehen. So war das auch bei diesem
Patienten. Zum Glück konnten wir arrangieren, dass die Mutter zu uns
kam. Die beiden haben sich angenähert. Und das war dem Sohn genug,
danach konnte er loslassen.
Wie muss ich mir
diese Gesprächssituationen vorstellen? Sind das Tischgespräche? Sie
essen alle gemeinsam Mittag, oder?
Das bieten wir an,
ja. Und klar, das sind dann Gespräche, die bei Tisch aufkommen
können. Wir sprechen auch über Alltägliches, wie unser
Marmelade-Verkauf auf dem Lister-Meilen-Weihnachtsmarkt war etwa, wir
sprechen über das Leben, manchmal schweigen wir aber auch einfach
miteinander.
Sprechen Sie schon
mal darüber, wie kostbar das Leben eigentlich ist?
Das ist eine schwere
Frage. Wie kostbar ist das Leben? (Er rührt sich etwas Zucker in den
schwarzen Tee, der Löffel klirrt sachte an den Tassenrand.) Es ist
auf alle Fälle zu kostbar, um sich über Erbschaften oder die
Lebensführung einzelner aufzureiben, da sind sich alle einig, glaube
ich. Und ich merke immer wieder, dass von unseren Patienten eine
Leichtigkeit ausgeht, die ich versuche, in mein Leben zu übernehmen.
Wie meinen Sie das?
Unsere Patienten
regen sich nicht mehr über Kleinigkeiten auf – rote Ampeln etwa,
den Sonntagsfahrer, den Vordrängler an der Supermarktkasse, all das,
was die Geduld im Alltag testet. Anderes ist ihnen wichtiger.
Was zum Beispiel?
Ich denke da zum
Beispiel an die letzten Wünsche, die wir versuchen, unseren
Patienten zu erfüllen. Wir fragen nach: Gibt es irgend etwas, das
Sie noch einmal tun möchten? Neulich hatten wir zum Beispiel eine
Patientin, die wollte gern auf einen Reiterhof und Pferde streicheln.
Am liebsten wäre sie gern noch einmal geritten, aber dafür war sie
leider einfach nicht mehr in der Verfassung. Andere Patienten möchten
einmal noch ans Steinhuder Meer und frischen Fisch essen, möchten in
die Herrenhäuser Gärten und sich das Aquarium anschauen oder
einfach noch einmal eine Runde um den Maschsee drehen. Das möchten
wir für die Patienten ermöglichen und arbeiten dafür manchmal mit den Maltesern und deren Herzenswunsch-Krankenwagen zusammen
oder mit den Mitarbeitern der Hamburgischen Kay-Stiftung.
Und an den Tagen ist
das Leben dann noch einmal besonders kostbar?
Absolut. Vor allem
die Patientin, die auf dem Reiterhof war und der Patient, der noch
einmal das Aquarium besucht hatte, die sind so fröhlich, so
ausgelassen zu uns zurückgekehrt, das war einfach wunderbar.
Was passiert denn
mit denen, die sich einfach einmal ein wenig Stille wünschen?
Die hat jeder
Patient in seinem Zimmer, wenn er das möchte, wir haben nur
Einzelzimmer. Acht Stück, dazu drei Zugehörigenzimmer. Und dann
haben wir auch unsere Kapelle, die wir als Ort der Stille
eingerichtet haben. Kommen Sie mit, ich zeig’ sie Ihnen.
Der 57-Jährige
steht auf, läuft in Jeans, Turnschuhen und Strickjacke überm
gestreiften Hemd durch den hellen Flur. Vorbei an den Sitzecken, die
bestückt sind mit gemütlichen Möbeln und jeweils einer Box voller
Kosmetiktücher, die Kurt Bliefernicht Service-Tücher nennt; für
den Fall, dass sich jemand schnäuzen muss. Vorbei auch an dem
Wandbild aus Tiffany-Glas, das ein Patient selbst gefertigt und dem
Hospiz vermacht hat. Es erinnert an Henri Rousseaus bunte
Dschungel-Bilder und lädt dazu ein, sich im Betrachten zu verlieren
in diesen gelben, grünen, blauen, roten Glassteinchen, die Elefanten
und Schlangen, Affen und Tukans, Schmetterlinge und Frösche zwischen
Bäumen und Lianen verschwinden lassen. Bliefernicht steuert einen
Raum an, der ans Wohnzimmer grenzt. Vom Flur aus ist durch einen
Spalt in der Wand zur Kapelle eine Osterkerze zu sehen, sie ist bis
zum unteren Drittel heruntergebrannt, das Hospiz-Team zündet sie an,
wenn ein Patient verstorben ist, also etwa 100 bis 120 Mal im Jahr.
55 bis Ende 60, so alt sind die Patienten im Schnitt, 98 Prozent von
ihnen haben Krebs im Endstadium, die weiteren zwei Prozent
neurologische Erkrankungen wie den chronischen Muskelschwund ALS. Im
Augenblick brennt die Kerze nicht.
Hierher kann sich
jeder zurückziehen, der Ruhe sucht, der vielleicht einfach mal ein
Kerzchen anzünden möchte. Hier bieten wir einmal pro Woche einen
Gottesdienst an für alle, die das möchten, mal katholisch, mal
evangelisch, mal einfach als Wortgottesdienst. Und hier bewahren wir
auch unsere Abschiedsbücher auf.
Welche
Abschiedsbücher?
Darin reservieren
wir für jeden Patienten zwei Seiten. Auf denen notieren wir das
Geburtsdatum, das Datum der Aufnahme und auch den Sterbetag. Die
Angehörigen können Fotos einkleben, noch etwas Persönliches
hineinschreiben.
Eine Tochter
schreibt darin an ihre Mutter: „Ich habe solche Angst gehabt, dich
zu verlieren. (...) Jetzt bist du zu Hause, hast keine Schmerzen
mehr.“ Es ist der 40. Band der Andenkenbücher, alle sind gebunden.
Was macht die Arbeit
mit Ihnen selbst?
Ich hatte neulich
Streit mit einem Menschen, der mir sehr nahe steht. Aber wir haben
das geklärt, durch meine Arbeit weiß ich, wie wichtig das ist. Und
ich habe mir einen Lieblingsspruch angewöhnt.
Der wäre?
Versuche nicht,
deinem Leben mehr Tage zu geben, sondern deinen Tagen mehr Leben.
NP-Visitenkarte: Das ist Kurt Bliefernicht
* 8. März 1960. Auf einem Bauernhof in Mellinghausen-Brake im Landkreis Diepholz ist Kurt Bliefernicht aufgewachsen. Im nahen Sulingen hat er Krankenpfleger gelernt und zunächst in einer Klinik, später in der ambulanten Versorgung auf einer Sozialstation gearbeitet. Zum 1. Januar 1995 wechselte er nach Kirchrode zum Hospiz Luise, das am 3. November 1994 eröffnet hatte. Seit 2003 leitet Bliefernicht das Haus. Er lebt in der List.
Info Hospiz-Luise
Das Hospiz Luise in Hannover Kirchrode ist eine Einrichtung der
Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul in
Hildesheim.
Auf der Internetseite des Hospizes heißt es weiterhin:
"Neben der stationären Aufnahme in unserem Haus bieten wir einen ambulanten Palliativdienst und einen ambulanten Hospizdienst.
Diese Dienste beraten, begleiten und unterstützen, wenn Menschen die
letzte Phase ihres Lebens in ihrer vertrauten Umgebung verbringen
möchten."
Es sieht sich in der Tradition christlicher Pflege und
mittelalterlicher Hospize, in denen Menschen unterwegs für ihre
Weiterreise Schutz und Stärkung erfahren haben.
Das Hospiz Luise freut sich über Spenden. Sie möchten spenden? Nähere Informationen gibt es HIER.