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Stadtgespräch mit der Holocaust-Überlebenden Ruth Gröne

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Hannover – das ist mehr als Maschsee, Messe und Herrenhausen. Hannover ist speziell. In der Serie „NPStadtgespräch“ gehen wir mit Menschen an für sie besondere Orte. Heute: mit Ruth Gröne (84) durch die Gedenkstätte Ahlem. Von dort deportierte die Gestapo ihren Vater.

von Verena Koll (Interview), Christian Behrens (Fotos) und Felix Peschke (Videos)

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Den roten Jutebeutel drückt Ruth Gröne an sich. Die 85-Jährige hat ihn mitgebracht in die Gedenkstätte Ahlem an der Heisterbergallee 10. Es ist ein Beutel voll Geschichte, gefüllt mit Fotos und Dokumenten. Im Büro von Leiterin Stefanie Burmeister packt Gröne den Inhalt aus: ihren Judenstern etwa, ihre „Deutsches Reich-Kennkarte“, in der sie Ruth Sara heißt („den Beinamen Sara haben die Nazis allen Jüdinnen verpasst, die wussten wohl nicht, dass das Prinzessin bedeutet“). All das sind Erinnerungen an den Holocaust. Ruth Gröne hat ihn überlebt. Aber sie hat auch gesehen, wie die Schergen der geheimen Staatspolizei Gestapo ihren Vater Erich von Ahlem aus in den Tod schickten.

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Ruth Gröne erinnet sich...

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In diesem Büro, in dem wir jetzt sitzen, war früher die Gestapo. In einem Gebäude nebenan haben sie ein Gefängnis betrieben, da haben sie meinen Vater festgehalten. Neun Wochen lang. Von November 1944 bis Februar 1945. Ich habe ihn jeden Tag an einem vergitterten Fenster gesehen und habe ihm zugewunken. Sprechen konnte ich nicht mit ihm.

Da waren Sie zwölf, oder?

Ja. Ein Kind. Und dann habe ich eines Tages durchs Fenster beobachtet, dass er sich seinen Mantel und seinen Hut angezogen hatte. Offensichtlich sollte er das Gefängnis verlassen. Ich habe sofort meiner Mutter Bescheid gesagt, aber sie ist nicht gekommen (sie schüttelt die weißen Haare); ich habe sie nie gefragt, wieso. Die Familie Samuel ist aber dazu gekommen, Herr Samuel war mit meinem Vater eingesperrt worden, Frau Samuel hatte ich also auch Bescheid gesagt.

Was ist den Männern denn vorgeworfen worden?

Sie sind verraten worden. Sie hatten von Bekannten Kaninchen-Junge bekommen, die wollten sie großziehen, damit wir eines Tages nochmal einen Braten hätten. Und dann war im Hof von Ahlem Korn gedroschen worden. Nach dem Aufräumen lagen noch einige Körner auf dem Boden, mein Vater und Herr Samuel fegten sie auf, sie wollten sie den Kaninchen geben. Irgendwer hat das verraten. Die Gestapo kam und hat beide vorgeladen. Der Vorwurf: „Vergehen am Volksgut“.

Und dann?

An diesem Februartag, dem 5. Februar 1945, haben die Samuels und ich vom Hof aus beobachtet, wie die beiden Männer auf einen offenen Lastwagen verladen wurden. Wie Vieh. Wir sind ihnen nachgerannt und haben gewunken. Mir war nur nicht klar, dass das das letzte Mal war, dass ich meinen Vater sehen würde (sie stockt). Herr Samuel hat’s geschafft, er hat überlebt. Mein Vater nicht.

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Das haben meine Mutter und ich sehr viel später erfahren. (Ruth Gröne schluckt und tupft sich Tränen aus den Augenwinkeln.) Entschuldigung, das ist mir peinlich, dass mir jetzt die Tränen kommen.

Bitte nicht.

Das war mir auch peinlich, als meine Mutter und ich erfahren haben, was mit meinem Vater passiert war. Meine Mutter hat hinterher die ganze Straßenbahnfahrt über geweint und ich wünschte mir die ganze Zeit: Hör auf.

Was hatten Sie erfahren?

Die Nazis haben ihn zuerst ins Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg gebracht. Später mit 9000 weiteren Häftlingen nach Sandbostel im Landkreis Rotenburg an der Wümme. Dort ist er – nein, gestorben kann ich das nicht nennen. (Sie überlegt, ringt um die passenden Wörter.) Mein Vater ist in Sandbostel an Typhus erkrankt, es gab dort keine Verpflegung und keine medizinische Versorgung, er war in einer überfüllten Baracke untergebracht, lag ohne Matratze, ohne Decke, ohne Stroh, ohne irgend etwas auf dem Boden. Ein todkranker Mann. Sterben kann ich das nicht nennen, das erscheint mir zu positiv, ein treffenderes Wort fällt mir allerdings nicht ein.

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Die Geschichte ihres Vaters hat Ruth Gröne aufgeschrieben in Band 5 der Schriftenreihe der Gedenkstätte. Sie hat viel Sorge gehabt um ihn während der Zeit der Judenverfolgung. Etwa als er 1933 seine Stelle als „1. Verkäufer der Teppich- und Gardinenabteilung“ bei Karstadt an der Georgstraße verlor, „im Zuge der verlangten Arisierung des Betriebs“, wie es im Kündigungsschreiben heißt. Anschließend versorgte der Vater die Familie durch eine Aushilfsstelle als Fahrer, später erhielt er eine Anstellung als Hausmeister. Oder die Angst, als die SS- oder SA-Männer („so genau weiß ich das nicht mehr, ich war fünf damals, ich werde aber das Poltern ihrer Stiefel nie vergessen“) am 9. November 1938 an die Tür klopften.

Damals wohnten wir noch in der Hausmeisterwohnung an der Wißmannstraße 11 in der Südstadt. Eigentlich war das ein sehr ruhiges Haus. Aber an dem Tag war es viel lebhafter als sonst, die Wohnungstüren standen auf, alle Radios waren an, irgendwer grölte die ganze Zeit über. Vermutlich Goebbels. „Sie kommen“, sagte Vater irgendwann. Und dann klingelte es. Meine Mutter nahm mich auf ihren Schoß und zitterte, das hat mir Angst gemacht. Das geht ja allen Kindern so, wenn sie merken, ihre Eltern haben Angst. Dann schlossen sich alle Wohnungstüren und weil mein Vater der Hausmeister war, ging er hinunter um zu öffnen. Sie kamen mit ihm in unsere Wohnung. Zum Glück haben sie uns nichts getan, aber sie haben einiges mitgenommen. Zum Beispiel unser Blaupunkt-Radio, das hat mich sehr geärgert. Da hatte ich immer Kinderfunk dran gehört, Folgen von „Vater & Sohn“ liefen da, Märchen wurden vorgelesen. Tja, und nach der Nacht war nichts mehr wie vorher.

 
Was heißt das?

Mein Vater und ich waren freitags oder sonnabends in die Synagoge gegangen, die wurde in der Pogromnacht aber angezündet und brannte ab, das war also vorbei. Gleichzeitig konnte ich nicht mehr zur evangelisch-lutherischen Bugenhagenkirche an der Stresemannallee. Da habe ich mit den Kindern aus unserer Straße sonntags den Kindergottesdienst besucht. Aber nach der Pogromnacht spielten sie nicht mehr mit mir. Vom einen auf den anderen Tag beschimpften sie mich. „Judenbalg“, nannten sie mich und sie sagten, ich sei nichts wert (sie rückt die braune Hornbrille auf der Nase zurecht). Glauben Sie mir, es ist schmerzhaft, das von seinen Spielkameraden zu hören.

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Nach der Pogromnacht organisierte der Vater, dass die Großeltern Frieda und Hermann aus seinem Heimatdorf Boffzen bei Holzminden zu den Kleebergs an die Wißmannstraße zogen. Kleeberg, so lautete   Ruth Grönes Mädchenname. Zu fünft wohnten sie in der Südstadt, bis sie im Herbst 1941 binnen 24 Stunden ins Sammellager für Juden an der Ohestraße in der Calenberger Neustadt beordert wurden. Die Fünf teilten sich mit einem älteren Ehepaar ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer. Am 12. Dezember ging’s weiter in das Sammellager, das in der ehemaligen Gartenbauschule Ahlem eingerichtet worden war. Drei Tage später wurden Ruth Grönes Großeltern ins Ghetto Riga deportiert. Ihr Vater brachte seine Eltern noch bis zum Zug im Lindener Bahnhof Fischerhof, um ihnen bis zuletzt beizustehen. Ein Lebenszeichen erhielt er nie wieder von ihnen; vielleicht wurden sie im Wald mit hunderten anderen Opfern erschossen. Als der Vater nach Ahlem zurückkehrte, weinte er, seine Tochter dachte, Papa sei krank. Für Ruth selbst ging es mit ihren Eltern weiter ins sogenannte Judenhaus an der Herschelstraße in der Innenstadt.

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Das kam uns paradiesisch vor, da hatten wir ein Zimmer für uns. Nur ein- bis zweimal pro Woche kamen zwei Männer von der Gestapo vorbei. Die Erwachsenen erzählten, die Männer seien immer betrunken gewesen. Sie trieben uns alle in den Keller, die Männer auf die eine Seite, die Frauen mit den Kindern auf die andere. Sie suchten sich zwei Männer aus, einer musste sich über eine Kiste, einen Schemel oder was auch immer da herumstand legen, und der andere musste ihn verprügeln. Schlug er nicht hart genug zu, musste er sich selbst über die Kiste legen und die Nazis schlugen zu. Ich habe noch den Geruch der essigsauren Tonerde in der Nase, mit der die Frauen die geprügelten Männer hinterher kühlten.

Hat die Gestapo Ihren Vater je für die Prügel herausgezogen?

Nein. Aber ich hatte jedes Mal Angst davor. Und dann sind wir in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober 1943 an der Herschelstraße ausgebombt worden. Mein Vater hat zuerst noch versucht, in der Wohnung zu löschen, aber es war schnell klar: Das hat keinen Zweck. Also sind wir raus. Wir sind durchs brennende Hannover geflüchtet. Wir wollten ins Judenhaus in der früheren Gartenbauschule Ahlem.

Wie haben Sie das geschafft?

Mein Vater hatte für jeden von uns eine Wolldecke in Wasser getränkt. Er warf meiner Mutter eine über, mir eine und sich selbst. Mich nahm er in den Arm und sagte, ich sollte nicht aus der Decke herausschauen. Habe ich aber doch: Überall war Feuer, und wenn ein Feuer so heiß brennt, entsteht ein Sturm. Sie müssen sich das vorstellen wie einen Schneesturm, nur dass da keine Schneeflocken in der Luft sind, sondern Funken. Wir haben immer wieder welche ausgeschlagen. Meinem Vater hat es die Haare weggesengt. Holzbohlen krachten vor uns herunter. Irgendwann musste ich mich übergeben, solche Angst hatte ich. Sie müssen bedenken: Da war ich zehn.

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Nichts. Das ist einer der Momente im Leben, in denen man nicht denkt, sondern macht. Man tut das, was nötig ist. Man will ja überleben.

Wo hatten Sie die Kraft her? Wie haben Sie die Nazis überlebt, Frau Gröne?

Wie haben das die Überlebenden aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen gemacht, die zwischen 1946 und 1948 nach Ahlem kamen und einen landwirtschaftlichen Kibbuz aufgebaut haben? Sie waren lebenslustig. Sie haben nicht an die Vergangenheit gedacht, sondern an die Zukunft. Schulklassen fragen mich oft, ob wir Party gemacht haben, als die Amerikaner uns befreit haben.

Und? Haben Sie?

Nein. Wir waren froh, dass Hitler tot und die Nazis besiegt waren. Aber die meisten von uns waren noch in Sorge um die Angehörigen. Gefeiert haben wir nicht. Aber wir haben uns zum Beispiel gefreut, dass wir uns wieder im Schlafanzug schlafen legen konnten, dass wir uns nicht mehr angezogen ins Bett legen mussten. Es kam ja kein Fliegeralarm mehr, wir mussten nicht mehr in die Bunker. Und dann ging das Leben weiter. Ich habe die Schule abgeschlossen, eine Lehre gemacht zur Putzmacherin.

Zur bitte was?

Hutmacherin (sie lächelt). Und mit meiner Freundin Anneliese bin ich zum Tanzen gegangen. Dabei habe ich meinen Mann Ludwig kennengelernt. Wir haben später in Ahlem gebaut, haben zwei wunderbare Kinder bekommen. Marita und Jürgen. Alles in allem habe ich viel Glück gehabt.

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Die Gedenkstätte Ahlem war ursprünglich eine jüdische Gartenbauschule, später wurde sie von den Nazis als Sammelstelle für Deportationen, Gefängnis und Hinrichtungsstätte missbraucht. Seit 1987 gibt es dort die Gedenkstätte. Sie dokumentiert die Geschichte des Ortes und des jüdischen Glaubens.In der Gedenkstätte gibt es regelmäßig Vorträge, Diskussionen, Zeitzeugengespräche, Lesungen und Führungen. Dienstags, mittwochs und donnerstags ist sie von 10 bis 17 Uhr (im Juli von 10 bis 15 Uhr), freitags von 10 bis 14 Uhr und sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist kostenlos. Je­den ersten und dritten Sonntag gibt es um 14 Uhr eine offene Führung.

Weitere Informationen:www.gedenkstaette-ahlem.de

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