Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Herr Abdulmaula?
Hannover - das ist mehr als Nanas, Messe und Herrenhausen. Hannover ist speziell. In der Serie "NP Stadtgespräch" gehen wir mit Menschen an für sie besondere Orte. Dieses Mal mit Hassan Abdulmaula (22) am Maschsee entlang. Dort joggt der sudanesische Flüchtling gern.
von Verena Koll (Text) und Christian Behrens (Fotos)
Eigentlich wollte er gar nicht nach Deutschland. Die einzigen beiden Dinge, die Hassan Abdulmaula über das Land wusste, war zum einen die Geschichte von Hitler und Nazi-Deutschland. Und dann wusste er, dass Jérôme Boateng der einzige schwarze Fußballer im deutschen WM-Kader von 2014 war. „Das waren mir eindeutig zu wenig Bunte im Team“, meint er, „das und dann noch die Sache mit Hitler, da dachte ich mir: Nach Deutschland sollte ich als Schwarzer besser nicht.“ Hassan Abdulmaula ist ein Flüchtling aus dem nordostafrikanischen Sudan, seit drei Jahren lebt er in Hannover.
Fühlen Sie sich
inzwischen zu Hause in Hannover?
Jein. Zu Hause wird
immer der Sudan bleiben. Aber ich fühle mich in Hannover sehr
willkommen, und das hätte ich so nicht erwartet. Aber es ist so, es
gibt wirklich viele nette Menschen hier. Ihr Deutschen seid fleißig
und zuverlässig und pünktlich. Oh ja, pünktlich, das habe ich
schnell gelernt. Es heißt ja immer, den Afrikanern hat Gott die Zeit
gegeben, den Europäern die Uhr. Bei uns heißt es nicht: Wir treffen
uns um 18 Uhr. Bei uns heißt es: Wir treffen uns heute Abend. Das
kann 18 oder 19 oder 20 Uhr sein.
Was haben Sie noch
an den Deutschen beobachtet?
Ihr lebt, um zu
arbeiten. Ihr arbeitet nicht, um zu leben. Viele haben Angst, sie
hätten nicht genug auf dem Konto. Und diese Angst macht sie fertig.
Dabei brauchst du nicht viel, um zu leben. Wir hatten nie viel.
Was heißt das? Wie
war Ihr Leben im Sudan?
Ich stamme aus einer
einfachen Bauernfamilie. Ich habe drei jüngere Geschwister, und wir
haben in einer ländlichen Region im Gebiet Darfur gelebt. Wir hatten
Kühe und Ziegen. Es war ein einfaches, aber es war ein schönes
Leben.
Wenn es so schön
war, warum haben Sie es aufgegeben?
2003 hat ein
Bürgerkrieg in der Region Darfur begonnen.
Der Darfur-Konflikt.
Seit 2012 beteiligt sich die Bundeswehr an der UN-Mission UNAMID, den
Einsatz hat der deutsche Bundestag gerade verlängert.
Und die Unruhen
hatten eine Weile gebraucht, aber 2008 hatten sie auch unseren Stamm
erreicht. Die Rebellen haben meinen Onkel und meinen Opa getötet.
Wir mussten flüchten. Meine Eltern hatten sich getrennt, meine
Mutter hat also uns Kinder genommen und ist mit uns in ein UN-Lager
im Tschad geflüchtet. Da haben wir drei Jahre lang gelebt.
Und dann?
Als Ältester unter
uns Geschwistern wollte ich für meine Familie sorgen. Ich wollte
Geld verdienen. Also bin ich zurück in den Sudan zu einem Onkel in
Khartum.
Der Hauptstadt
Sudans.
Dort habe ich
angefangen, als Maurer zu arbeiten. So konnte ich meine Familie
unterstützen. Dann kam ich in Kontakt zu Menschen, die eine Gruppe
unterstützten, die unserem Stamm helfen wollten. Diese Gruppe war
aber von der Regierung verboten.
Seit 1989 herrscht
der Diktator Umar al-Baschir im Sudan. Er ist durch einen
Militärputsch an die Macht gekommen. Im Jahre 2011 hatte er
angeküngt, für die nächste Präsidentschaft nicht mehr zu
kandidieren, 2015 stellte er sich aber doch wieder zur Wahl und
gewann mit 94 Prozent der Stimmen. Al-Baschir ist der erste
amtierende Staatschef, gegen den der Internationale Strafgerichtshof
in Den Haag einen Haftbefehl erlassen hat. Die Vorwürfe lauteten im
Jahre 2009 auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
Kriegsverbrechen im Darfur-Konflikt.
Ich war 16, als ich
mich mit diesen Menschen traf, ich war jung. Wir trafen uns etwa
drei- oder viermal im Monat. Ungefähr 30 Personen kamen zu den
Treffen. Und eines Tages muss uns jemand verraten haben. Die Polizei
kam. Viele konnten weglaufen, aber sechs, sieben von uns wurden
verhaftet. Ich auch. Ich war zu aufgeregt, um aus dem Fenster zu
springen, ich hab’s nicht geschafft. Also haben sie mich
mitgenommen.
Wohin?
Sie haben uns in ein
Geheimgefängnis gebracht. In Kellerräume ohne Fenster. Und dann
haben sie uns zuerst sehr freundlich befragt. Jeden einzeln. Sie
wollten wissen, was wir machen, für wen wir arbeiten, wer der
Anführer sei. Ich konnte aber keine der Fragen beantworten, ich
wusste das alles nicht. Dann haben sie begonnen, mich zu schlagen.
Folter?
Zu foltern, ja. Ich
kann bis heute auf meinem linken Ohr nichts hören. Es ist taub
geworden durch die Schläge. Ich hatte hier im Nordstadtkrankenhaus
schon zwei Operationen, aber hören kann ich immer noch nicht. Elf
Monate ging das so.
Die Gefangenschaft?
Ja. Und dann hatte
ich Glück. Ich habe gehört, wie eine der Wachen auf dem Gang am
Telefon in meinem Heimatdialekt sprach. In Bargo. Ich habe gedacht,
das ist ein Zeichen. Als ich ihn wieder gesehen habe, habe ich
angefangen, in meiner Zelle ein lautes Selbstgespräch zu führen in
Bargo. Das hat ihn neugierig gemacht, er hat begonnen, sich für mich
zu interessieren. Ich habe ihm erzählt, dass meine Familie, dass der
Onkel, bei dem ich in Khartum untergekommen war, gar nicht weiß, was
mit mir passiert ist. Die Wache hat den Onkel verständigt. Er hat
Schmiergeld bezahlt, und die Wache hat mich flüchten lassen. Er hat
aber gesagt, ich müsse ganz schnell das Land verlassen, sonst wäre
sein eigenes Leben in Gefahr.
Hassan Abdulmaula
erzählt, wie der Onkel ihn eine Woche lang bei Bekannten versteckt
hätte. Nach der Haft habe der Neffe zunächst nicht mehr gehen
können, eine Folge der Folter. Während die Bekannten ihn
aufpäppelten, planten sie mit dem Onkel, wie es weitergehen sollte
für Hassan. Sollte er nach Ägypten flüchten? Nach Libyen? Für
Ägypten wären Papiere nötig gewesen, Hassan hatte keine. Also fiel
die Wahl auf Libyen. Schlepper wurden bezahlt, und eine Woche später
machte sich Hassan auf den Weg durch die Sahara. Das ferne Ziel:
Bengasi, die libysche Hafenstadt. Sechs Monate lang arbeitete Hassan
dort, wieder als Maurer.
Aber Libyen ist auch
nicht sicher. Wenn du deinen Lohn bekommst, wirst du oft überfallen.
Wenn sie dein Geld wollen, halten sie dir eine Waffe an den Kopf (er
deutet mit seinem Zeigefinger eine Pistole an der Schläfe an, dann
schubst er mit den Schultern.) Da wehrst du dich nicht, dann gibst du
ihnen, was sie wollen. Mein Leben war nicht schön, damals. Ich habe
überlegt: Was kann ich tun? Von Freunden hörte ich, dass viele über
das Meer nach Italien flüchten. Das wollte ich nicht. Ich bin ein
Mensch der Sahara, die Wüste liegt mir, das Meer hat mir aber Angst
gemacht, ich kann nicht einmal schwimmen, ich bin kein Mann des
Wassers. Aber welche Wahl blieb mir? Also habe ich 600 US-Dollar
bezahlt für die Flucht nach Italien.
Für das Gespräch
wollte sich Hassan Abdulmaula am Maschsee treffen, am Wasser. Vom
Ufer aus hat er das lieb gewonnen. Er schaut auf die kippeligen
Wellen, die der Wind hochschaukelt. Auf die Enten, die sich darüber
treiben lassen. Auf den Kormoran, der nach den Fischen taucht. Der
22-Jährige atmet tief ein („die Luft kommt mir hier frischer vor
als in der Stadt“). Und er erzählt weiter vom 2. Juni 2015, der
Nacht, in der er um 23 Uhr ein Schlauchboot in Bengasi bestieg. Zwei
mal zwölf Meter groß. Mit 110 weiteren Menschen.
Erst ging alles gut.
Aber gegen 6 Uhr morgens ging der Motor vom Boot kaputt. Ich erinnere
mich an das ganze Blau: Das Wasser war blau, der Himmel war blau. Und
wir waren ein kleiner schwarzer Punkt inmitten dieses ganzen Blau.
Ich war mir sicher: Das war’s. Mir ging durch den Kopf: Was habe
ich bisher geschafft in meinem Leben? Was hätte ich gern noch
gemacht?
Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?
Oh ja. ich bin
Moslem, ich bin religiös, das hat mir geholfen. Ich war mir sicher,
ich hätte nur noch zwei, drei Stunden zu leben, aber ich dachte mir:
Das ist gar nicht so schlimm. Dann siehst du bald deinen Onkel,
deinen Opa und all die anderen Verstorbenen wieder. Die vermisst man
ja auch.
Aber Sie haben sie
dann doch nicht wiedergesehen. Sie sind noch da.
Ich habe ein
weiteres Leben geschenkt bekommen, ja (er lächelt). Unser Fahrer –
Der Schlepper?
Nein, das war auch
ein Flüchtling. Sie werben immer einen an, dem sie zeigen, wie das
Boot funktioniert. Dann muss er mit, er kann es sich nicht im letzten
Moment noch anders überlegen. Dafür muss er aber auch die 600
Dollar für die Überfahrt nicht bezahlen. Und dieser Fahrer hatte
ein Satellitentelefon mit Nummern bekommen. Als unser Motor kaputt
gegangen war, hat er jemanden angerufen. Dann hat uns ein
Militärschiff gerettet.
Die Soldaten hätten
die Flüchtlinge auf ein Schiff der Ärzte ohne Grenzen gebracht.
Zielhafen: ein Flüchtlingslager in Italien. Dort fühlte sich Hassan
Abdulmaula fremd, aber er hatte von anderen Flüchtlingen gehört,
die nach England gegangen waren. Dort wollte er auch hin, er hoffte,
er würde Bekannte treffen. Er versuchte, sich mit dem Zug
durchzuschlagen. So gelangte er auf einem Güterwaggon als blinder
Passagier zwar nicht nach England, aber nach Nürnberg und von dort
über Braunschweig am 29. Juni 2015 nach Hannover. Zunächst kam er
in eine Flüchtlingsunterkunft nach Hainholz, inzwischen lebt er im
früheren Siloah-Krankenhaus.
Haben Sie jemals
Kontakt zu Ihrer Familie?
Wir telefonieren
schon mal miteinander. Meine Mutter ist mit meinen beiden jüngsten
Geschwistern noch im Flüchtlingslager im Tschad, ein Bruder ist nach
Khartum gegangen. Er hält sich fern von Politik, bisher geht es ihm
gut. Meine Mutter möchte, dass ich auch zurückkehre. Aber das kann
ich nicht, solange Umar al-Baschir Präsident ist, mein Leben wäre
nicht sicher. Mein Traum ist, dass erstmal mein Asylantrag angenommen
wird und dass ich hier in Deutschland eine Ausbildung machen darf.
Vergangenes Jahr hatte ich eine Ausbildung zum Anlagenbauer
angefangen, aber dafür war mein Deutsch noch zu schlecht, ich bin in
der Berufsschule nicht mitgekommen. Das musste ich leider abbrechen.
Sie sprechen doch
sehr gut.
Ich habe weiter
gelernt. Ich möchte doch eines Tages Menschen helfen, behinderten
Kindern zum Beispiel. Und wenn ich dann auf meinen eigenen Beinen
stehe, wie ihr so schön sagt, und wenn der Frieden im Sudan wieder
eingekehrt sein wird, dann möchte ich nach Hause zurückkehren.
Vielleicht habe ich irgendwann selbst eine Familie mit ein, zwei
Kindern. Aber das käme auf meine Partnerin an, das müssten wir
natürlich gemeinsam planen.