Von Verena Koll (Text) und Nancy Heusel (Fotos) Halten Sie Gott für fair, Herr Hahne? Hannover - das ist mehr als Maschsee, Messe und Herrenhausen. Hannover ist speziell. In der Serie "Stadtgespräch" gehen wir mit Menschen an für sie ganz besondere Orte. Heute: mit dem Notfallmediziner Dirk Hahne (52) durchs Friederikenstift.
Videos: Felix Peschke, Medienproduktion Filmklar, Hannover
Wahrscheinlich ist
das Friederikenstift an der Humboldtstraße 5 in der Calenberger
Neustadt gar nicht so groß. Von außen wirkt es jedenfalls nicht so.
Aber wer mit Dr. Dirk Hahne durchs 618-Betten-Haus läuft, glaubt
nicht, dass er je wieder herausfindet. „Das machen wir bewusst so“,
meint der Notfallmediziner und grinst. „Wenn Besucher erstmal hier
sind, finden sie so schnell nicht wieder raus."
Jetzt lacht der
Oberarzt der Anästhesie, Fältchen legen sich um seine blauen Augen.
„Das ist natürlich Quatsch“, betont er, „ich nehme bewusst
nicht den direkten Weg, weil ich zeigen will, wie verschachtelt das
Haus ist.“ Das liegt in dessen Geschichte: 1843 hatte König Ernst
August von Hannover dem damaligen Frauenverein für Armen- und
Krankenpflege das Grundstück zur Verfügung gestellt, auf dem das
Zentralgebäude bis heute steht. Hahne führt ins Besprechungszimmer
im ersten Stock.
Wie sind Sie
eigentlich ans Friederikenstift gekommen?
Oh, das ist
tatsächlich schon lange her. Vor 22 Jahren bin ich gekommen. Und
eigentlich wollte ich Chirurg werden.
Was ist schief
gelaufen? Denn Sie sind Notfallmediziner und Anästhesist geworden,
Sie sind einer der Oberärzte im Zentrum für Anästhesiologie,
Intensiv-, Notfall- und Schmerzmedizin.
Da ist nichts schief
gelaufen, im Gegenteil. Während meiner Ausbildung dachte ich, es
wäre gut, Notfallmedizin zu lernen. Denn intubieren muss ein Chirurg
im Notfall ja auch. Und ich habe gehofft, das zusätzliche Wissen
macht mich besser. Durch die Notfallmedizin lernte ich dann aber die
Anästhesie kennen – und die hat mich erst so richtig gepackt.
Warum?
Weil sie so
vielfältig ist. Die meisten Patienten verbinden die Anästhesie nur
mit Narkosen. Wir sind aber auch zuständig zum Beispiel für die
Intensivpatienten, kommt jemand mit besonders schweren Verletzungen
zu uns, bin ich bei der Erstversorgung dabei, bei einer
anschließenden OP und auch noch auf der Intensivstation. Oder
Schmerzpatienten: Um die kümmern wir uns auch. Sowohl die Patienten
mit chronischen Schmerzen, wie auch die akuten Fälle – etwa
denjenigen, der wegen einer Kreuzband-OP zu uns kommt und hinterher
möglichst wenig Schmerzen haben soll. Oder die Schwangere unter der
Geburt. Na ja, und mein Steckenpferd ist die Notfallmedizin. Seit
1997 fahre ich mit auf dem Notarzteinsatzfahrzeug, seit 21 Jahren.
Und was fesselt Sie
so an der Notfallmedizin?
Auch wieder: die
Abwechslung. Jeder Fall ist einzigartig. Zum einen ist das Team jedes
Mal neu. Ich bin mit einem Notfallsanitäter der Feuerwehr im
Notarzteinsatzfahrzeug unterwegs. Und da wir in Hannover das
sogenannte Rendezvous-System haben, treffen wir am Einsatzort auf den
Rettungswagen, der besetzt ist mit zwei weiteren Notfallsanitätern.
Mehr als 800
hauptberufliche und 750 ehrenamtliche Einsatzkräfte arbeiten in
Hannover für den Brandschutz, den Rettungsdienst und den
Katastrophenschutz. Tagsüber sind bis zu 22 Rettungswagen im
Einsatz, in den Nachtstunden reduziert sich die Anzahl je nach
Bedarf. Elf der Wagen sind mit Kräften der Berufsfeuerwehr besetzt,
die übrigen bestücken Hilfsorganisationen wie die Johanniter oder
Malteser sowie private Dienstleister. Insgesamt 123 456
Rettungseinsätze hatten die Teams im Jahre 2016, aktuellere Zahlen
liegen der Feuerwehr noch nicht vor. Bei 12 833 der Alarmierungen
waren Notärzte mit am Einsatzort, 2207 mal die des
Friederikenstifts. Hahne schätzt, dass er im Schnitt zehn Einsätze
am Tag hat, manchmal gar keine, dann wieder 13 in einer
Zwölf-Stunden-Schicht.
Das Spannende ist,
dass kein Einsatz ist wie der andere. Wir wissen ja nie, was uns
erwartet. Klar ist nur, dass wir immer die Negativauslese sehen: Wir
Notärzte werden ja nur zu den schweren Fällen gerufen, nicht zu
denen, die hinfallen, dann aber selbst wieder aufstehen. Wenn wir
angefordert werden, ist es lebensbedrohlich – dann geht es um einen
Herzinfarkt, einen Schlaganfall, um eine Reanimation, ein Kind oder
einen Patienten mit einem sogenannten Polytrauma. Also jemand, der
zum Beispiel aus großer Höhe gestürzt ist, eine Schädelverletzung
hat, dazu Verletzungen im Brustbereich, der lebenswichtigen Organe,
der Arme und Beine.
Wie halten Sie das
aus?
Im Einsatz denkt man
nicht, da macht man einfach. Dann konzentriere ich mich auf den
Patienten. Ein Vorteil für mich ist, dass ich nicht alleine zum
Einsatzort fahre, sondern vom Notfallsanitäter gefahren werde. Wenn
wir dann zum Beispiel auf dem Weg sind zu einem Kind, sagen wir, zu
einem Fünfjährigen, dann rufe ich im Kopf ab, was Fünfjährige im
Schnitt wiegen, wie die Medikation also sein muss. Ich konzentriere
mich. Gerade Fälle, die Kinder, Schwangere oder viele Verletzte
betreffen, lassen jeden aufgeregt sein. Da ist es gut, wenn ich
vorher im Auto noch einmal zur Ruhe komme.
Und hinterher? Was
nehmen Sie von Ihren Einsätzen mit nach Hause?
Mitnehmen tut man
immer was. Mir gehen Gewaltverbrechen zum Beispiel nahe, wenn junge,
unbeteiligte Menschen in eine Sitution kommen, in der sie mehrere
Messerstiche abbekommen. Das ist teils blutreich. Das gibt Bilder im
Kopf. (Er nippt an seinem Kaffee.) Oder ich denke an einen Suizid: Da
stand einer auf einem Balkon, eine Polizistin sprach auf ihn ein, wir
warteten in Bereitstellung. Und dann sprang der uns vor die Füße.
Das war das schrecklichste Geräusch, das ich je gehört habe.
Halten Sie Gott für
fair, wenn Sie so etwas erleben?
Natürlich stellt
man sich die Frage. Nicht beim Einsatz, da ist man auf den Patienten
fixiert. Die Frage kommt schon mal im Nachhinein. Und nun bin ich
zwar weder Theologe, noch besonders bibelfest, aber ich denke, dass
Gott nicht alles lenkt. Wir Menschen haben eine Handlungsfreiheit.
Gott wird niemandem ein Messer in die Hand drücken und sagen: „Hier,
stich’ den mal ab.“
Oder einen
Sprengstoffgürtel anziehen und sagen: „Hier, spreng’ die mal in
die Luft.“
So etwas tun
Menschen, und die Verantwortung für diese Taten können sie nicht
auf Gott abwälzen. Ich halte Gott in den Momenten also nicht für
unfair, weil ich nicht glaube, dass solche Taten in seiner
Verantwortung liegen. Außerdem glaube ich, dass Leid zum Leben dazu
gehört. Das ist in der Bibel ja schon so: Als Jesus am Kreuz hing,
hat er schrecklich gelitten. Wohl glaube ich bei manchen Einsätzen,
dass da Schutzengel am Werk waren.
Nennen Sie einen.
Ich denke da an eine
Schülerin, ein Mädchen, das zehn oder zwölf Jahre alt war. Es
hatte die Straße an der Stadionbrücke überquert, als ein schnelles
Fahrzeug das Kind erfasste. Zeugen haben später erzählt, dass das
Mädchen 20 Meter weit durch die Luft geflogen sei. Sie ist dann am
Brückengeländer aufgeschlagen, zum Glück war sie nicht ins Wasser
gefallen. Ich habe sie an der Stadionbrücke stabilisiert, wir haben
sie zu uns ins Traumazentrum am Friederikenstift gefahren. Wir haben
sie gründlich untersucht und dabei festgestellt: Außer einem Schock
und blauen Flecken hatte das Mädchen gar nichts. Es hatte so einen
schlimmen Unfall gehabt – und hat nichts abbekommen. Das ist so ein
Moment, in dem habe ich Gott für sehr fair gehalten. (Er lächelt.)
Und dann muss man die Frage natürlich auch hannöversch sehen.
Wie das?
Ich denke da an ein
Zitat von Gottfried Wilhelm Leibniz, nicht weil ich ein so großer
Philosoph wäre, sondern weil mein Sohn das neulich aus dem
Religionsunterricht mit nach Hause gebracht hat. Leibniz hat einmal
sinngemäß gesagt: Gott habe die bestmögliche aller Welten für den
Menschen erschaffen. Es liegt an uns, sie noch besser zu machen.
Sie für die
Patienten zu verbessern, versuchen die Ärzte am Friederikenstift
täglich, zum Beispiel in der Notaufnahme. Dort kommen Dirk Hahne und
dessen Kollegen an, wenn sie vom Rettungseinsatz zurückkehren. Er
führt den Weg hinunter ins Erdgeschoss zur Ambulanz, geht kurz vor
die Tür, begrüßt die Notfallsanitäter, die Besatzungen aus fünf
Fahrzeugen sind aktuell da. Hahne zeigt, wie’s im Rettungswagen
aussieht: Jeder sei eingerichtet wie ein Mini-Krankenhaus, alle
Fahrzeuge gleich, die Medikamente, Kompressen, der Defibrilator
jeweils in den gleichen Fächern, damit sich jeder Notfallsanitäter,
jeder Notarzt in jedem Fahrzeug auskennt, nichts suchen muss, sondern
sich um den Patienten kümmern kann. Dann geht’s in die
Notaufnahme. Hahne führt in den sogenannten Schockraum 2, die
Anlaufstelle für Schwerstverletzte.
Haben Sie jemals
selbst einen Notarzt gebraucht?
Tatsächlich ja. Im
vergangenen Herbst war das. Ich kam zurück von einer Fahrradtour.
Wir waren mit unseren Rennrädern unterwegs gewesen, aber wir waren
schon wieder zurück im Stadtgebiet, fuhren also langsam. Und dann,
keine Ahnung, bin ich irgendwo hängen geblieben, ausgerutscht, ich
weiß es nicht. Auf jeden Fall habe ich mich mit dem Rad hingelegt.
Mein Helm ist in drei Teile zerbrochen, nicht auszudenken, was
passiert wäre, wenn ich den nicht angehabt hätte.
Und dann haben Sie
der Besatzung gleich im Rettungswagen schon Anweisungen gegeben?
Ich war nicht
ansprechbar. Ich bin erst in der Notaufnahme zu mir gekommen und
musste dann fünf Tage auf der Intensivstation bleiben.
In welchem
Krankenhaus?
Hier bei uns in der
Frieda.
Ist das nicht
komisch im eigenen Krankenhaus?
Ich war ehrlich
gesagt froh, hier zu sein. Ich wusste ja, dass alle eher dreimal
gucken würden, wie’s mir geht. Aber es ist trotzdem kein Spaß,
Patient zu sein.
Sie meinen: Ihre
Ärzte hatten es schwer mit Ihnen?
Zugegeben, es ist
schwer als Patient. Aber es hat mir wirklich geholfen zu wissen, dass
das meine Kollegen sind, die da auf mich aufpassen.
Da hatten Sie also
keine Angst vor. Gibt es denn Einsätze, die Ihnen Angst machen?
Auf alle Fälle
müssen wir als Einsatzkräfte besser aufpassen denn je: Wenn wir in
eine Wohnung gerufen werden, schaue ich mittlerweile, ob da ein
Baseballschläger hinter der Tür steht oder ob das Würgehalsband
vom Pitbull noch da ist.
Und dann wächst natürlich die Angst vor
einer Terrorlage, im Ernstfall könnten wir bei uns in der Frieda bis
zu 70 Schwer- und Schwerstverletzte versorgen. Das brächte
allerdings auch Entscheidungen mit sich, die kein Arzt fällen
möchte: Welche Patienten können wir noch versorgen? Welche sind zu
schwer verletzt und werden erst einmal zurückgestellt?
Ich hoffe,
dass ich zu so einem Einsatz nie gerufen werde.