Sind Sie Anwalt der Armen, Herr Pastor? Von Petra Rückerl (Text) und Michael Wallmüller (Fotos)
Hannover - das ist mehr als Maschsee, Messe und Herrenhausen. Hannover ist speziell. In der Serie "NP-Stadtgespräch" gehen wir mit Menschen dieser Stadt an für sie ganz besondere Orte. Wir wollen Hannover dort sehen, hören und begreifen. Heute: Mit Diakonie-Pastor Rainer Müller-Brandes auf dem Weg zu den Armen in dieser Stadt.
Wie groß ist die Not in Hannover, Herr Müller-Brandes?
Hannover ist eine
schöne Stadt und vieles klappt auch gut. Aber es gibt verschiedene
Hannover: Wir haben den Mühlenberg, da ist die Hälfte der Menschen
auf staatliche Leistungen angewiesen, in Isernhagen-Süd sind es 1,5
Prozent. Wir versuchen für alle, die in Not sind, da zu sein.
Irgendwie stehen Sie
hier am Raschplatz genau zwischen den extremen Welten, oder?
Ja, hinter mir am
Hauptbahnhof ist das eine, das offizielle Hannover mit seinen
Spaziergängern, Geschäftsleuten, Pendlern. Und hier am Kontaktladen
Mecki ist das andere Hannover. Jeden Morgen kommen ungefähr 100
Menschen hierher, um sich aufzuwärmen, zu essen, sich medizinisch
versorgen zu lassen. Es gibt ein hohes Maß an Verelendung, viele
haben ein großes Alkoholproblem. Hier ist die Not wirklich sehr,
sehr groß.
Wie drückt sich die Not aus?
Wie drückt sich die Not aus?
Viele haben Probleme
mit ihrer Gesundheit, das sind in die Haut eingewachsene Hosen oder
andere Wunden, die sich entzündet haben. Das sind grippale Infekte –
wer auf einer Parkbank schlafen muss, kann seine Erkältung nicht
auskurieren. Im Kontaktladen Mecki arbeitet eine Krankenschwester,
die manchmal zusammen mit Ärzten in einem acht Quadratmeter kleinem
Raum eine medizinische Notversorgung anbietet.
Rund um den
Kontaktladen Mecki scheint sich die Obdachlosen-Community zu
versammeln..
Der Kontaktladen
Mecki hat von acht bis elf Uhr morgens auf, auch samstags, hier
bekommen die Leute Frühstück, Sozialarbeiter bieten Hilfe an. Die
Idee war, dass die Menschen ihren Tag strukturieren können, die
Realität ist inzwischen schon eine andere. Für viele ist das hier
ein Aufenthaltsort geworden. Allerdings herrscht drinnen
Alkoholverbot, das macht es für uns schwierig, an manche Menschen
heranzukommen. Trotzdem müssen wir es versuchen – sie sind bei
jedem Wetter draußen, viele alkoholisiert. Also versuchen wir, mit
einem weiteren Baustein zu helfen.
Sie meinen den
„Kompass“, der für manche Bürger als „Trinkerraum“
verschrien ist?
Die Stadt wollte
hier Sicherheit, Sauberkeit und zusammen mit uns auch ein weiteres
„S“ für das Soziale. Der „Kompass“ hat von elf bis 19 Uhr
geöffnet, auch am Wochenende. Die Leute können ihr Bier oder ihren
Wein mitbringen, aber keine harten Sachen. Der Raum wurde gut
angenommen, fünf auch polnisch oder russisch sprechende
Sozialarbeiter arbeiten hier. Das muss tatsächlich sein. Viele der
osteuropäischen Obdachlosen sind Arbeitsmigranten, die oft schwarz
mal hier, mal dort gearbeitet, starke Alkoholprobleme haben und aus
der Scham heraus gescheitert zu sein, nicht nach Hause zurückkehren.
Seit dem 1. Januar haben sie keine weitergehenden Ansprüche mehr auf
staatliche Leistungen – erst nach fünf Jahren, wenn sie nicht
gearbeitet haben. Das erschwert die Situation für sie natürlich –
und auch für uns.
Können Sie die
ablehnende Haltung mancher Bürger gegen einen Trinkerraum denn
verstehen?
Zum Teil verstehe
ich die Ablehnung, aber es gibt auch viel Mitgefühl. Insgesamt
klappt das gut, übrigens auch mit der Stadt Hannover. Ich bin da
selbst im Herzen gespalten. Ich ärgere mich manchmal darüber, dass
die Stadtreinigung manchen Tunnel vom Müll derer, die dort
übernachtet haben, reinigen muss. Aber wenn man mit den Menschen ins
Gespräch kommt, dann kann man auch verstehen, was und warum das
passiert.
Ist die Diakonie so eine Art Anwalt der Armen?
Nur ein Beispiel: Es
gibt überall schöne Bänke in der Innenstadt. Und es gibt die
Diskussion, ob diese Bänke Bügel in der Mitte haben sollten, damit
dort niemand darauf schlafen kann. Es gibt verschiedene Interessen in
der Großstadt, aber es gibt Menschen, deren Interessen weniger stark
vertreten sind. Für diese Menschen versuchen wir da zu sein.
Die
Diakonie ist der soziale Zweig der evangelischen Kirche. Nicht nur
Gutes predigen, sondern Gutes tun, ist das Motto. Oder anders gesagt:
Wir versuchen in der Not, aber wenn möglich auch aus der Not zu
helfen.
Die Diakonie versucht den Menschen im „anderen Hannover“ Angebote
zu machen, mit denen sie ihren Tag strukturieren können. In der
Berliner Allee 8 gibt es seit kurzem einen Tagestreff mit
Frühstücksraum und Küche, Duschen, Waschmaschinen und Trocknern,
internetfähige PC und eine Kleiderkammer – und Sozialarbeiter, die
den Menschen im Krankheitsfall einen der sechs Plätze in einer
Krankenwohnung vermitteln, die Sucht- und Schuldnerberatung anbieten
oder auch Hilfe beim Umgang mit dem Jobcenter. Kurz: Eine
Perspektive, um irgendwie aus diesem Elend heraus zu kommen. Die
Menschen nehmen das Angebot an, schon in der Früh stehen hier Männer
und Frauen, um das raue Leben auf der Straße wenigstens für ein
paar Stunden hinter sich zu lassen. Die Räume sind hell und
freundlich, Männer sitzen an einem Tisch und reden leise, eine Frau
kommt mit frisch gewaschenen Haaren aus der Dusche, in der Küche
schmiert sich ein Wohnungsloser Brot.
Im vergangenen Winterversorgten Bürger Obdachlose mit Matratzen und Decken. Wächst das Mitgefühl der Leute mit der Armut?
Ja, weil die Armut
sichtbarer wird. Man kann sie nicht mehr verdrängen. In den
vergangenen zwei bis drei Jahren hat sich das Stadtbild sichtbar
dadurch verändert, dass Osteuropäer hier gestrandet sind. Die
Zukunft sieht nicht besser aus, denn die Flüchtlinge von heute
könnten die Obdachlosen von morgen sein. Selbst wenn sie Hartz IV
beziehen, fehlen günstige Wohnungen.
Es soll Menschen
geben, die in Champagner baden. Und andere, die ihr letztes Geld für
Fusel ausgeben. Was geht Ihnen näher?
Wenn Menschen in
Champagner baden, dann ist das deren Entscheidung. Natürlich würde
ich mich freuen, wenn sie vielleicht einen Teil des Geldes für den
Champagner an arme Menschen spenden würden. Näher gehen mir die
anderen Menschen, die kaum noch freiwillig entscheiden können.
Gibt es einen Zusammenhalt unter den Armen?
Gibt es einen Zusammenhalt unter den Armen?
Alle Menschen sind
wie „du und ich“, man schließt sich zusammen, sucht sich
Freunde, geht auch zu jenen Landsleuten, mit denen man eine Sprache
spricht. Da ist die polnische Community, die russische, die arabische
– man trifft sich untereinander. Das ist wie bei uns, die wir
reicher sind. Wenn man dann allerdings einen zusätzlichen Druck hat,
drogenabhängig ist, dann braucht man Geld, um den Stoff zu besorgen.
Da ist man offensiver, während Wohnungslose eher passiver sind.
Das Miteinander
unter den verschiedenen Gruppen ist nicht leicht, unter den
Betroffenen gibt es durchaus Antipathie.
Was machen Sie
eigentlich, wenn Sie angebettelt werden?
Das ist bei mir
stimmungsabhängig. Wenn die Geschichte gut ist, gebe ich gern etwas.
Manchmal bin ich auch schlecht drauf und dann habe ich keine Lust.
Etwa, wenn mir einer zum wiederholten Male sagt, er bräuchte das
Geld, um heim nach Braunschweig zu kommen. Klar ist: Keiner bettelt
gern, keiner bettelt freiwillig und ich finde, wir müssen den
Anblick von Armut in einer Stadt ertragen. Und grundsätzlich tut es
mir ja nicht weh, etwas abzugeben...
Während Rainer
Müller-Brandes an den „Armuts-Hot-Spots“ in der City
vorbeischaut, mit Obdachlosen auf menschlicher Augenhöhe spricht.
sind Frauen in langen Röcken und auch körperversehrte Männer mit
ihren Plastikbechern unterwegs. Viele Leute sind ziemlich genervt,
andere geben den einen und anderen Cent, mancher schaut ganz stolz
dabei – bis die Bettler den nächsten Passanten anbetteln. Szenen,
die mittlerweile ins hannoversche Straßenbild gehören.
In der Georgstraße betteln Frauen und Männer aus Osteuropa, deren Kinder erscheinen verwahrlost. Wie gehen Sie mit diesem Problem um?
In der Georgstraße betteln Frauen und Männer aus Osteuropa, deren Kinder erscheinen verwahrlost. Wie gehen Sie mit diesem Problem um?
Die Schwierigkeit in
unserer Arbeit ist ja auch, Menschen aus anderen Kulturen zu
akzeptieren. Für die Armutsbevölkerung aus Osteuropa haben wir
Angebote, angefangen bei der Kleiderkammer gerade für die Familien
mit vielen Kindern. Da haben wir Sozialarbeiter und Dolmetscher, die
sie ansprechen. Wir sind auch im Schulen unterwegs, weil es Probleme
mit den sogenannten Schulverweigerern geht, versuchen mit Lehrern und
auch Eltern zu sprechen. Da kommen auch wir manchmal an unsere
Grenzen. Es ist anstrengend, man braucht auch eine gewisse
Frustrationstoleranz, aber wir haben den Anspruch: Wir geben nie auf.
Viele Roma-Familien
kommen mit ihren Kindern zur Diakonie, um sich mit Kleidung zu
versorgen. In der Kleiderkammer in der Burgstraße sieht es aus wie
im Lager eines großen Einzelhändlers. Kinder- und
Erwachsenenkleidung, Schuhe, sogar Unterhosen, aber auch
Haushaltsgegenstände wie Gläser gehen hier über den Tresen.
Kleidung ist billig.
Wozu brauchen wir eine Kleiderkammer in Hannover?
Hier bekommen die
Leute kostenlos Kleidung. Und es kommen jeden Tag Menschen hierher,
teilweise an offiziellen Öffnungszeiten, aber auch an
Einzelterminen. Zwei bis drei Tonnen verschenkte Kleidung im Monat
spricht eine deutliche Sprache. Das zeigt, dass da ein dringender
Bedarf ist. Dabei kommt keiner freiwillig hierher.
Aber hier arbeiten
Leute auch freiwillig und ehrenamtlich...
Ja, wir haben hier
viele, die hinter dem Tresen arbeiten. Auch Flüchtlinge sind dabei,
sie lernen auf diese Weise auch gleich deutsch. Und sie erleben, dass
sie anderen helfen können. Das macht ja auch etwas mit einem. Sie
stehen mal auf der anderen Seite des Tresens, das tut ja auch einmal
gut.
Ist es für einen armen Menschen schlimmer, im reichen Land arm zu sein?
Ich denke schon. Die
Tatsache, dass ich täglich sehe, was die anderen haben, macht es
schwieriger. Wenn ich dann noch sehe, dass es aus meiner Sicht
manchen anderen unverdient besser geht, dann ist das sicher hart.
Viele Menschen
definieren sich über Konsum, brauchen wir ein anderes
Definitionsmuster in unserer Gesellschaft?
Da steckt die große
Frage hinter: Wie definiere ich Glück? Wenn man sich wirklich fragt,
„Wann bin ich glücklich?“, dann ist das nicht der Moment, wenn
man sich neue Schuhe gekauft hat. Das hält ja nur kurz. Glücklich
ist man ja eigentlich, wenn man etwas bei der Arbeit geschafft hat,
wenn etwas gelingt oder wenn man mit Freunden zusammen ist.
Vielleicht regt es einen ja auch zum Nachdenken an, wenn man jemanden
notleidend in der Stadt sieht. Es löst die eigenen Probleme nicht,
aber es relativiert sie vielleicht.